Jedem Menschen dem du Vertrauen schenkst, drückst du auch gleichzeitig ein Messer in die Hand..

0 Kommentare Photobucket


"Wer früh am Weihnachtsmorgen an der Zuckerstangenfassade einer Vorstadtsiedlung entlangschlendert, kann wohl kaum umhin wahrzunehmen, wie sehr die Häuser mit ihrem Schmuck und Geglitzer den Päckchen ähneln, die hübsch eingepackt unter den Weihnachtsbäumen liegen: Hier wie dort verbergen sich Geheimnisse. So wie man versucht ist, am Geschenkpapier herumzuzupfen und die Päckchen zu schütteln, würde man am liebsten durch den Spalt zwischen den Vorhängen schauen und einen Blick auf die Familie beim Beschweren erhaschen - ein eingefangener Moment, der neugierigen Blicken sonst verborgen bleibt. In der sanften, geheimnissvollen Stille, die es nur an diesem einen Morgen im Jahr gibt, stehen die Häuser für die Augen der Welt draußen wie bemalte Zinnsoldaten: Schulter an Schulter, mit geschwellter Brust und eingezogenem Bauch schützen sie stolz das, was sich darin befindet.
Häuser am Weihnachtsmorgen sind Schatztruhen versteckter Wahrheiten - ein Kranz an der Tür wie ein auf die Lippen gelegter Finger, heruntergelassene Jalousien wie geschlossene Augenlider. Irgendwann, zu einem nicht genauer definierbaren Zeitpunkt, dringt durch die Jalousien und zugezogenen Vorhänge ein warmer Glanz nach draußen, der Hauch einer Ahnung, dass drinnen etwas geschieht. Wie Sterne am dunklen Nachthimmel, die fürs bloße Auge einer nach dem anderen sichtbar werden, wie die winzigen Goldstückchen, die zum Vorschein kommen, wenn die Flusskiesel abgesiebt werden, so gehen auch im Halblicht der Morgendämmerung hinter den Jalousien und Vorhängen die Lichter an. Und wie der Himmel schließlich in vollem Glanz der Sterne erstrahlt, so beginnt die Straße zu erwachen, Zimmer für Zimmer, Haus für Haus. Am Weihnachtsmorgen senkt sich eine Atmosphäre tiefer Stille über die Welt draußen. Doch die leeren Straßen machen keine Angst, ganz im Gegenteil. Sie sind ein Inbild von Frieden und Sicherheit, und trotz der Kälte liegt gleichzeitig Wärme in der Luft. Aus vielerlei Gründen verbringen Familien diesen Tag des Jahres lieber im Haus, denn draußen ist es trüb, während sich drinnen eine Welt strahlender Farben entfaltet, in der mit solcher Inbrunst das Geschenkpapier aufgerissen wird, dass die buntschillernden Bänder, die zuvor alles zusammengehalten haben, wie im Rausch zu Boden schweben. Weihnachtsmusik und festliche Düfte erfüllen die Luft, Zimt, Gewürze und alle mäglichen anderen Wohlgerüche. Überall kommt es zu spontanen Ausbrüchen von Freude, Zuneigung und Dankbarkeit, bunt und unberechenbar wie losgelassene Papierschlangen. Die Weihnachtstage sind Drinnen-Tage, keine Menschenseele treibt sich freiwillig draußen herum, alle scheinen ein Dach über den Kopf zu haben.
Nur die Leute, die von einem Haus in ein anderen unterwegs sind, bevölkern spärlich die Straßen. Autos fahren vor und werden ausgeladen. Aus weitgeöffneten Haustüren dringen Begrüßungsworte in die Kälte hinaus, kurze Kostproben von dem, was drinnen vor sich geht. Und während man noch dabei ist, alles in sich aufzunehmen, und sich mit dem Gefühl, man wäre hier ebenfalls eingeladen, breitmacht, als fremder, aber dennoch gerngesehener Gast über die Schwelle zu treten, da schließt plötzlich die Haustür und versperrt den Zutritt zum Rest des festlichen Tages - wie eine eindringliche Erinnerung daran, dass nur die Eingeweihten dort drinnen diesen Augenblick für sich in Anspruch nehmen dürfen.

In genau dieser Gegend mit ihren Spielzeughäuschen wandert eine einzige Seele einsam durch die Straßen. Diese Seele sieht die Schönheit der geheimnisvollen Häuserwelt nicht, nein, diese Seele hat es auf eine Auseinandersetzung abgesehen, sie möchte die Schleife lösen und das bunte Papier wegreißen, sie möchte allen zeigen, was sich hinter der Tür verbirgt. Für uns hat es keinerlei Bedeutung, womit der Bewohner des Hauses beschäftigt ist, aber wenn ihr es unbedingt wissen wollt: In diesem Augenblick greift ein 10 monatiges Baby, etwas verwirrt von dem grünen, blickenden Gegenstand in der Zimmerdecke, der furchtbar pieckst, wenn man ihn anfasst, zögernd nach der glänzenden roten Kugel, in der sich seltsam verzerrt eine vertraute Patschhand und ein zahnloser Mund spiegeln. Derweil rollt eine 2 jährige wohlig im überall herumliegenden Geschenkpapier herum, badet im Geglitzer wie ein Nilpferd im Schlamm. Neben ihnen jedoch legt er eine Kette aus glitzernden Diamanten um ihren Hals. Ihr bleibt fast die Luft weg, sie presst die Hand auf die Brust und schüttelt ungläubig den Kopf, wie man es manchmal bei Frauen in alten Schwarzweißfilmen sieht. Nichts von alldem ist wichtig (...)
(...) Ein Dolch steckt tief in seinem Herzen. Was dort drinnen vor sich geht, kann er nicht sehen, aber seine Phantasie ist übersättigt von den Tränen (...)
(...) Auch Menschen haben ihre Geheimnisse, ebenso wie Häuser. Manchmal leben die Geheimnisse in den Menschen, manchmal leben die Menschen in ihren Geheimnissen. Die Arme eng um ihre Geheimnisse geschlungen, verbiegen sich die Menschen ihre Zungen an der Wahrheit. Aber die Zeit vergeht, und irgendwann gewinnt die Wahrheit doch die Oberhand. Sie dreht und windet sich, sie wächst so lange an, bis die geschwollene Zunge sie nicht mehr einwickeln kann und endlich die Worte ausspucken muss. Dann fliegt auch die Wahrheit durch die Luft und landet krachend in der Welt. Wahrheit und Zeit arbeiten immer zusammen.
Es geht um Menschen, die ganz ähnlich wie hübsch eingepackte Geschenkte, ihre Geheimnisse verbergen, um Menschen, die sich eine Schutzschicht nach der anderen zulegen, damit niemand sie sehen kann. Bis so ein Mensch irgendwann der Person begegnet, der Person, die das sieht, was sich unter all den Schichten verbirgt. Manchmal muss man sich jemandem schenken, um zu erfahren, wer man ist. Und manchmal muss man etwas Stück für Stück auspacken, um zum Kern vorzudringen - ein Mensch, der Schicht für Schicht von seiner Schutzhülle befreit wird, bis das Wesentliche sich zeigt - sichtbar für alle, die wichtig sind. Und alle, die wichtig sind, werden auch für diesen Menschen sichtbar. Gerade noch rechtzeitg."

Cecelia Ahern - Zeit deines Lebens

0 liebe Kommentare ♥

Schreib mir etwas:

« »