Ich halt' den Kaffee für dich warm. #Kapitel1

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Da sitzt sie nun. Überwältigt von Gefühlen, die sie eigentlich schon kannte. Sie überrumpeln sie jedes Mal aufs Neue. "Wie kann ein Mensch nur so oft und so intensiv fühlen?", fragt sie sich. Ist das normal? Krank fühlt sie sich, weil es sich so anfühlt. Weil es sie müde macht und weil sie es nicht kontinuierlich, sondern in unregelmäßigen Abständen fühlt. Unnormal. Draußen beobachtet sie die bunten Herbstblätter aus ihrer Dachgeschosswohnung am Londoner Greenwich Park. Sie zählt die Blätter, die reihenweise von den Bäumen fallen. Das laute Fipsen erinnert sie daran, dass ihr Morgenkaffee fertig war. Sie lief in die Küche und nahm ihre einzige Tasse, die sie besaß aus dem Regal - die mit dem angebrochenem Griff. Plötzlich wurden diese intensiven und unbeschreiblichen Gefühle immer stärker. Vertraut, schön, gewöhnlich und schmerzhaft, stechend und atemberaubend zu gleich. Die Tasse. Sie weckt Erinnerungen an Momente voller Glück und Seligkeit. Glück, welches es nicht mehr gibt. Keine Zeit und kein Geld für neue Tassen. Lieber den Kaffee wieder aufwärmen, um in nichts Neues zu investieren. Beim Eingießen in die Tasse rutschte sie mit der Kanne am angebrochenen Griff ab und goss sich den Kaffee über ihren fliederfarbenen Rock. Super, auch das noch. "Soll das jetzt witzig sein?", denkt sie sich. Sie fühlt sich vom Schicksal verarscht und verraten.




Vor 2 Monaten lebte Gale noch mit der Liebe ihres Lebens zusammen. Dachte sie. Ja, für sie war es etwas ganz besonderes. Gale ist Ende 20 und fühlte sich so emanzipiert und frisch wie nie zu vor. Sie war nicht abhängig von ihm. Sie achtete strickt darauf ihr eigenes Ding durchzuziehen und trotzdem in ihrer großen Liebe zu versinken. Was sie dabei nicht bedachte war, dass sie sich emotional abhängig machte. Sobald man liebt, verliert man die komplette Kontrolle über sich selbst, wird leichtsinnig und macht Fehler. Die rosa-rote Brille war also ihr emotionaler Tod.
Er lies sie fliegen. Er machte sie leicht. Sie konnte noch so viel Kekse essen. Sie konnte sich den ganzen Winter über gehen lassen. Sie konnte aussehen wie ein Hefekloß - sie fühlte sich trotzdem federleicht. Es lag an ihm. Seine Leichtigkeit und diese verdammte rosa-rote Brille. Jetzt ist er weg und geblieben ist der Hefekloß. Ohne Leichtigkeit. Aus der starken, selbstbewussten, dynamischen und hoffnungsvollen Frau wurde ein verletztes, gekränktes, würdeloses, deprimiertes kleines Mädchen, welches sich völlig isoliert in ihrer Dachgeschosswohnung am Londoner Greenwich Park versteckte und täglich den Kaffee warm hielt.
Ihr war es mit ihm nicht wichtig, was andere von ihr hielten. Wichtig war, dass sie sich liebten und gegenseitig gut taten. Jetzt ist alles anders. Gale fühlt sich entwürdigt, verlassen und sucht ihren Stolz. Sie fühlt sich wertlos. Als wäre ihre Würde mit der Liebe ihres Lebens fortgegangen und nur noch die Hülle ihres Körpers wäre übrig. Sie kannte dieses Gefühl nicht. Gale hatte so etwas zuvor noch nie erlebt.
Seine funkelnden Augen, immer dann, wenn sie über das Leben philosophierten. Seine Grübchen, die geschwungen bei jedem herzhaften Lachen um seine Mundwinkel spielten. Seine warmen, sanften und aufmunternden Berührungen, wenn sie wieder mal ungeschickt etwas fallen ließ oder etwas umschmiss, weil sie wieder mal zu schnell um die Ecke bog. Nur noch die Erinnerungen daran blieben ihr und die Fragen nach der Wahrheit. Tag für Tag hält sie den Kaffee für ihn warm.

Die Hoffnung stirbt zuletzt, aber sie stirbt.
Sagt sie sich jeden Tag, fast wie ein Mantra. Sie hofft, dass die Hoffnung verblasst, in der Hoffnung, dass es nicht DIE Hoffnung ist, die irgendwann stirbt.
Gale wohnte mit ihm in einem Apartment im Londoner East End. Sie konnten sich nichts Besseres leisten, aber das war ihnen auch nicht wichtig. Es funktionierte super und der engere Raum störte die beiden auch nicht, da sie sowieso die meiste Zeit des Tages arbeiten waren. Gale besaß für den Fall der Fälle eine gewisse Rücklage und musste ihrer Mutter versprechen niemandem davon zu erzählen und das Geld für sich im Notfall zu nutzen. Gale's Mutter starb vor einigen Jahren an Brustkrebs. Heute ist Gale froh, trotz der emotionalen Todesbrille standhaft geblieben zu sein. Mit einer Handbewegung gestikuliert Gale in Richtung Zimmerdecke. Das soll so etwas, wie "danke" bedeuten. Gale arbeitete tagsüber in einem Buchgeschäft um die Ecke und 3x die Woche nachts in einer Bar. Will half 2x die Woche bei seinem Onkel in der Werkstatt aus und studierte nebenbei Philosophie. Ja, nebenbei. Richtig ernst nahm er das Studium nicht und ging nur ab und an zu Vorlesungen. Will war der Meinung, die Philosophie entfalte sich erst richtig, wenn man täglich den wichtigen Dingen und damit der Philosophie auf den Grund ginge. Deswegen las er auch die meiste Zeit des Tages irgendwelche Bücher. Innerhalb von 2 Tagen hatte er Bücher gelesen, die 2500 Seiten dick waren. Gale fand seine leicht naive Art süß erfrischend. Sie mochte seine spielerische Sichtweise auf das Leben.

Der Zeitpunkt an dem ihre rosa-rote Brille wie ein großer Scherbenhaufen vor ihr zerbrach war da, als sie an einem Abend im November von ihrem Zweitjob nach Hause kam. Eigentlich sollte Will mit Frühstück auf sie warten, so wie immer, wenn Gale von ihrer Nachtschicht in der Bar nach Hause kam. Als sie die Tür zum Apartment aufschloss, dachte sie kurzzeitig in der falschen Wohnung zu sein. Die Schranktüren standen offen, Papier flog wild umher, Glasscherben lagen auf dem Boden, die alte Vase von Gale's Großmutter lag in kleinen Teilen auf dem Küchentisch und die große Bürolampe war auch zertrümmert. Die Wohnung sah aus, als wäre jemand eingebrochen. Allerdings gab es an der Wohnungstür keine Spuren. Die Fenster waren auch verschlossen und es war außerdem ziemlich schwierig von außen in den 10. Stock zu gelangen. Langsam kam Gale zur Besinnung und ihr fiel auf, dass der Kleiderschrank leer und das Bett abgezogen war. All das, was Will gehörte, war verschwunden. Nichts lies mehr vermuten, dass außer Gale, hier noch jemand wohnen würde.



(Fortsetzung folgt.)

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